Joachim Ullrich ist Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. Hier ticken Uhren, die zu den genauesten Uhren der Welt zählen. Wie sie funktionieren, was es mit der Weltzeit auf sich hat und wozu es gut ist, eine Sekunde auf sechzehn Stellen hinter dem Komma genau zu bestimmen, erklärt der Physiker im Interview.
trends in automation: Herr Professor Ullrich, die Physikalisch-Technische Bundesanstalt ist bekannt für ihre genauen Uhren und so gesehen eine Instanz in Sachen Zeit. Doch was ist eigentlich Zeit?
Prof. Dr. Joachim H. Ullrich: Dies ist eine sehr vielschichtige Frage. Wir Physiker machen es uns einfach und definieren Zeit über vorhersagbare, wiederkehrende Prozesse, zum Beispiel über die Erdrotation oder ein Pendel. Bereits vom Nobelpreisträger und PTB-Kurator Albert Einstein ist diese sehr pragmatische Definition überliefert. Danach ist Zeit, was man an der Uhr abliest. Seit Einstein wissen wir jedoch auch, dass Zeit relativ ist, zum Beispiel dass sie langsamer fließt, wenn wir in Bewegung sind oder uns in einem Schwerefeld befinden. Relativ ist auch die menschliche Wahrnehmung von Zeit. Noch einmal frei nach Einstein: Zwei Minuten in Gesellschaft eines netten Mädchens scheinen sehr kurz zu sein, während sich zwei Minuten auf einem heißen Ofen unendlich lange anfühlen können.
Darüber hinaus gibt es viele offene Fragen, zum Beispiel ob Zeit einen Anfang oder ein Ende hat und wie lange eigentlich Gegenwart in der menschlichen Wahrnehmung dauert. Auch die biologische Uhr und kulturelle Besonderheiten im Umgang mit der Zeit sind hochinteressante, aktuelle Themen der Wissenschaft.
trends in automation: Wie lässt sich Zeit messen?
Ullrich: Mit einem Pendel zum Beispiel. Dabei gilt, je kürzer das Pendel ist, desto schneller schwingt es und desto genauer lässt sich damit die Zeit messen. Noch präziser sind Quarzuhren, in denen ein Kristall mit elektrischer Spannung zum Schwingen gebracht wird. Über 30.000 Mal schwingt er in der Sekunde. Die genauesten Uhren sind im Moment die Atomuhren, auch wenn darin die Atome selbst nicht schwingen. Stattdessen nehmen wir elektromagnetische Strahlung zu Hilfe, genauer gesagt Mikrowellen. Sie schwingen noch viel schneller als ein Quarzkristall, nämlich etwa neun Milliarden Mal je Sekunde. Mit der Mikrowellenstrahlung regen wir Elektronen von Caesium-Atomen an. Und weil das nur funktioniert, wenn die Strahlung eine ganz bestimmte Schwingungsfrequenz hat, können wir darüber den Wert einer Sekunde definieren und auch sehr genau bestimmen.
Wir müssen natürlich stetig kontrollieren, dass wir den richtigen Takt vorgeben und die Elektronen auch wirklich anregen. Dazu schicken wir die Caesium-Atome in einem horizontalen Strahl zunächst durch Magnet- und Mikrowellenfelder und zählen dann, mit einem geschickt positionierten Detektor, nur Atome mit angeregten Elektronen. In unseren beiden genauesten Uhren, haben wir eine andere Anordnung und schießen die Caesium-Atome wie eine Fontäne senkrecht nach oben durch das Mikrowellenfeld. Dann durchlaufen sie das Feld beim Herunterfallen noch ein zweites Mal. Mit diesen Atomuhren können wir die Sekunde auf 16 Stellen hinter dem Komma genau bestimmen.
trends in automation: So genau müssen Armband- oder Bahnhofsuhren sicher nicht gehen. Wofür braucht man die hohe Präzision?
Ullrich: Ungenauigkeit sammelt sich an und zwar relativ schnell. Deshalb können wir nur mit sehr genauen Uhren auch langfristig eine hohe Genauigkeit gewährleisten. Darüber hinaus spielt die exakte Zeitmessung vor allem für wissenschaftliche Themen eine Rolle. Eines unserer Schwerpunktthemen in der PTB ist zum Beispiel die Frage, ob Naturkonstanten wie die sogenannte Feinstrukturkonstante, in die u.a. die Lichtgeschwindigkeit und das Planck’sche Wirkungsquantum eingehen, wirklich konstant sind. Es gibt Hinweise darauf, dass dies nicht der Fall ist. Sollte sich der Verdacht erhärten, würde dies weitreichende Folgen haben, denn viele Gesetze und Modelle basieren auf Naturkonstanten. Dass genaue Messungen manch sicher geglaubte Annahme torpedieren können, haben Zeitforscher übrigens schon in den Dreißigerjahren erfahren, als die Sekunde noch als Bruchteil der Erdrotation definiert war. Damals wurden hier an der PTB die genauesten Quarzuhren ihrer Zeit in Betrieb genommen. Die Forscher stellten fest, dass sich die Erde immer langsamer und insbesondere auch unregelmäßig dreht und nicht, wie für die damalige Zeitdefinition vorausgesetzt wurde, stets mit gleicher Geschwindigkeit.
trends in automation: Gibt es auch praktische Anwendungen für Atomuhren?
Ullrich: Atomuhren ticken zum Beispiel auf Ortungssatelliten für das amerikanische GPS-System oder das russische GLONASS und auch für die ersten Satelliten des europäischen Galileo. Diese Systeme ermitteln Standorte über Signallaufzeiten zwischen Satellit und Erde und brauchen deshalb sehr genaue Zeitangaben. Auch Geodäten wollen demnächst mit Uhren im All messen. Damit kann man die relative Position von zwei Satelliten hochgenau vermessen und über deren Veränderung auf das Schwerefeld der Erde schließen und dieses somit vollständig kartieren. Mit ähnlichen Messungen auf der Erde und noch genaueren Uhren könnten in Zukunft sogar unterschiedliche Massenverteilungen detektiert und damit auch Bodenschätze aufgespürt werden. An solchen Themen arbeiten wir gerade gemeinsam mit vielen Forschern im Exzellenz-Cluster QUEST der Leibniz Universität Hannover.
trends in automation: Haben die Uhren auf den Satelliten die gleichen komplexen Aufbauten wie die Atomuhren der PTB?
Ullrich: Sie funktionieren nach dem gleichen Prinzip, sind aber sicher etwas kompakter und müssen nicht ganz so genau sein. Durch die bisherige Signalübertragung kommt es ohnehin zu kleineren Abweichungen. Man kann Atomuhren für viele Zwecke heutzutage einfach kaufen. Sie kosten zwischen einigen 100 € und ca. 100.000 € für Anwendungen auf der Erde – für Satellitenanwendungen sind sie deutlich teurer – und laufen dank ausgereifter Technik in der Regel über viele Jahre wartungsfrei.
trends in automation: Sie sagen, die Technik gilt als ausgereift. Kann eine Atomuhr, wie sie zum Beispiel hier an der PTB steht, trotzdem ausfallen?
Ullrich: Grundsätzlich ist das natürlich möglich, aber wir haben Reserven. Alleine in der PTB ticken vier primäre Atomuhren als unser Beitrag zur Weltzeit. Und um beispielsweise die Zeit für Funkuhren zu liefern, die über einen Langwellensender in Mainflingen bei Frankfurt versendet wird, stehen vor Ort noch einmal drei weitere Atomuhren, die regelmäßig mit den PTB Uhren abgeglichen werden.
trends in automation: Wie wird sichergestellt, dass die Uhren überall auf der Welt richtig gehen?
Ullrich: Es gibt, wie eben schon erwähnt, die sogenannte Weltzeit, die für 24 Zeitzonen gilt und von ungefähr 400 Atomuhren weltweit bestimmt wird. Die Uhren werden miteinander verglichen und es wird ein Mittelwert gebildet. Dabei werden weniger genaue Uhren weniger gewichtet als genauere Uhren. Zum Schluss wird geprüft, ob dieser Wert mit den besten Uhren der Welt übereinstimmt, zu denen auch unsere Atomuhren an der PTB zählen. Die so bestimmten Werte gibt das internationale Büro der Meterkonvention, das BIPM, welches seit 1875 im französischen Sèvres bei Paris beheimatet ist, als Weltzeit heraus. Das passiert zurzeit einmal im Monat. Wichtig ist dabei auch, dass alle Atomuhren auf eine Höhe bezogen werden, weil die Zeit eben auch, nach Einstein, vom Schwerefeld abhängt.
trends in automation: Wie lange wird die aktuelle Zeitdefinition voraussichtlich noch gültig sein?
Ullrich: Sicher noch einige Jahre, aber die nächste Generation Uhren ist schon in Sicht. Diese sogenannten optischen Uhren werden vermutlich mindestens hundertmal genauer sein als die besten Atomuhren heute. Sie funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip. Die Strahlung, mit der wir hier Elektronen anregen, hat allerdings eine 100.000-mal höhere Schwingungsfrequenz und liegt im sichtbaren Bereich. Statt mit Mikrowellenstrahlung laufen die optischen Uhren deshalb mit Licht aus hochpräzisen Lasern.
An der PTB haben wir schon heute zwei verschiedene optische Uhren, die beide ungefähr zehnmal genauer sind als unsere Atomuhren. In den nächsten Jahren werden wir aber weltweit erst einmal unterschiedliche optische Uhren vergleichen und beobachten müssen, ob und mit welcher Unsicherheit sie alle gleich ticken. Solange wird es auch mindestens noch dauern, bis man die Definition einer Sekunde den neuen technischen Möglichkeiten anpasst.
trends in automation: Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit internationalen Partnern bei solchen neuen Entwicklungen?
Ullrich: Wir Metrologen arbeiten seit der Unterzeichnung der Meterkonvention im Jahr 1875 international sehr eng und konstruktiv zusammen, was ich als sehr angenehm empfinde. Aber natürlich gibt es auch Konkurrenz. Am Ende des Tages will schließlich jeder die beste Uhr haben. Was das betrifft, sind wir recht erfolgreich. Unsere Fontänen-Atomuhren zählen zu den genauesten Uhren der Welt. Und im Bereich der optischen Uhren liefern wir uns gerade ein freundschaftliches Kopf-an-Kopf-Rennen mit unserem Partnerinstitut, dem National Institute of Standard and Technology, kurz NIST, in den USA.
trends in automation: Sie beschäftigen sich beruflich sehr intensiv mit dem Thema. Beeinflusst das auch Ihr ganz persönliches Verhältnis zur Zeit?
Ullrich: Ich empfinde Zeit als ein extrem wertvolles Gut. Deshalb versuche ich, sie optimal zu nutzen. Ich arbeite zum Beispiel unterschiedliche Aufgaben, die intensive Konzentration verlangen, möglichst blockweise ab und werde dann dabei auch nur ungern unterbrochen, weil es die Arbeit höchst ineffizient macht, wenn man immer wieder von vorne anfangen muss. Deshalb mache ich mich in solchen Arbeitsphasen, meist frühmorgens oder am Wochenende, auch von Handy und Internet relativ unabhängig.
Das Schwierigste ist, die berufliche Zeit mit der Zeit für die Familie in Einklang zu bringen. Das liegt wohl auch ein bisschen daran, dass ich meine Arbeit so gerne mache und sie oft gar nicht als Arbeit empfinde. Dann vergesse ich schon mal die Zeit.
Joachim Ullrich ist seit 2012 Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, das nationale Metrologie-Institut Deutschlands. Davor war er Direktor des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik und leitete dort die Abteilung „Experimentelle Mehrteilchen-Quantendynamik“. Er ist nicht nur als PTB-Präsident international anerkannt, sondern auch als Experte für Quantenphysik und für Experimente an Freie-Elektronen-Lasern, zum Beispiel am DESY in Hamburg oder am SLAC National Accelator Laboratory in Stanford, USA. Für seine Arbeit erhielt er mehrere Auszeichnungen, darunter der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Förderpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Philipp Morris Forschungspreis.