Fertigung auf der Überholspur

Karosseriebau fast vollautomatisiert

Mit einem Automatisierungsgrad von 95 Prozent gehört das Karosseriewerk von Scania im schwedischen Oskarshamn zu den weltweit modernsten Werken im Fahrzeugbau. Bei höchster Individualisierung: Am Ende der Montagelinie gleicht keine Lkw-Fahrerkabine der anderen. Ist das schon Industrie 4.0? Automatisierungsprodukte von Festo sind dafür eine solide Basis.

Seit 2016 montiert der Premiumhersteller Scania streng nach Eingang der Bestellungen individualisierte Lkw-Kabinen – nahezu ausnahmslos von 288 Robotern. „Für mich ist ganz klar, dass ein Premiumprodukt in einer Premiumfabrik gefertigt werden muss“, erklärt Marcus Holm, Werksleiter für die Fahrerkabinenherstellung bei Scania in Oskarshamn. Der hohe Automatisierungsgrad führe zu hoher Qualität, guten Arbeitsbedingungen und Ergonomie für die Werker, ergänzt er.

Fabrik der Zukunft

Die Roboter bestücken Fixiereinheiten mit zu bearbeitenden Blechteilen und verschweißen sie. Mitarbeiter kümmern sich nur um das Beladen der Stationen sowie die Maschinenüberwachung. Der schwedische Arbeitsschutz hat es ohnehin unmöglich gemacht, Handschweißgeräte einzusetzen. Zum einen sind die Schweißgeräte zu schwer und unhandlich, zum anderen fordern Arbeitsschutzrichtlinien wegen der Strahlung einen Mindestabstand zwischen Schweißzange und Bediener.

Die Verbannung manueller Schweißarbeiten aus der Montagehalle nützt Scania doppelt: „Dies verbessert Prozesse und Qualität“, betont Lars Kreutner, Projektleiter Fahrerhaus-Karosseriebau bei Scania in Oskarshamn. Um die Automatisierungstechnik voll zu nutzen, richtete Scania einen Trainingsbereich ein, in dem Mitarbeiter die Nutzung der Roboter und der Automatisierungstechnik erlernen.

Viele Varianten möglich

Scania baut nur Lkws mit einem Gesamtgewicht von mehr als 16 Tonnen. Das Unternehmen hat sich einen Ruf als Hersteller von Sonderfahrzeugen wie beispielsweise für Feuerwehren oder Müllabfuhren erarbeitet. Allein durch diese Nischenmärkte entstehen hunderttausende Varianten.

„Es mag überraschen, aber wir bieten mehr Wahlmöglichkeiten zur Individualisierung der Lkws als in der Pkw-Produktion“, erklärt Evert Forsberg, Automatisierungs- und Elektro-Ingenieur in Presswerk und Karosseriebau bei Scania. In der Pkw-Produktion habe jedes Modell eine eigene Montagelinie. „Wir hingegen montieren auf einer Montagelinie sämtliche von Scania angebotenen Fahrerkabinen“, so Forsberg.

Industrie 4.0 im Einsatz

Damit trägt die Fabrik wesentliche Merkmale von Industrie 4.0 in sich: eine Massenproduktion individualisierter Fahrzeuge, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität dank Steuerungstechnik, Diagnosefähigkeit sowie Energieeffizienz und Safety-Lösungen. „Für alle Anlagenbauer gilt ein modulares Standardisierungskonzept“, erklärt Forsberg. Schließlich sollen sich die Anlagenbediener auf bewährte Automatisierungsprodukte verlassen können. Ziel ist auch, die Ersatzteilhaltung nicht unnötig aufzublähen. Alle Blechteile werden in pneumatisch angesteuerte Vorrichtungen gespannt, um dort verschweißt zu werden. „Dabei haben wir uns bewusst für die vorkonfigurierten Festo Ventilinseln vom Typ CPX/VTSA entschieden“, sagt Automatisierungsexperte Forsberg: „Diese bieten uns mehrere Vorteile – von der Ethernet-Anbindung und Web-Inferface über Diagnose, Safety und Profinet bis hin zur Energieeffizienz.“

Tatsächlich ist die CPX/VTSA Ventilinsel die einzige Schnittstelle zum Profinet – Extra-Verdrahtung entfällt. Die Ventilinsel bietet über die Automatisierungsplattform CPX Diagnosedaten, mit denen sich die Anlagen im Sinne von Predictive Maintenance beobachten lassen: „Wir können Anlagenkomponenten austauschen, bevor sie ausfallen und ganze Anlagenteile lahmlegen“, erläutert Projektleiter Kreutner.

Verschiedene Druckzonen

„Auch das Safety-Konzept der Ventilinsel hat uns überzeugt“, erzählt Forsberg. Die CPX erlaubt es, unterschiedliche Druckzonen zu betreiben und Bereiche zu entlüften, wenn ein Eingreifen notwendig wird. „So können wir mit mobilen Panels betroffene Anlagenteile überprüfen und müssen nicht wie die Stecknadel im Heuhaufen nach Fehlern in der Gesamtanlage suchen.“ Das Wiederbelüften einzelner Anlagenteile ist um ein Vielfaches energieeffizienter als das Hochfahren der kompletten Anlage.

Schweißroboter benötigen Druckluft zum Bewegen der Schweißzangen und zum Spannen von Blechen. Kühlwasser schützt die Schweißanlagen vor Überhitzung. Komplettlösungen zur Druckluft- und Kühlwasserversorgung von Schweißzangen kommen von Festo. Bei Scania sind sie bedienerfreundlich in den Sicherheitszaun integriert – inklusive Druckluftaufbereitung der MS-Reihe.

Sicheres Elektrodenfräsen

Für die statischen Schweißzangenanlagen entwickelte Festo nach den Vorgaben von Scania und ABB einen Schwingarm, der das Elektrodenfräsgerät, den so genannten Tip Dresser, nach 150 gesetzten Schweißpunkten den Elektroden zuführt. Der Schwingarm arbeitet mit präzise positionierenden Elektrozylindern vom Typ DNCE, angetrieben vom Schrittmotor EMMS. Mit dieser Lösung senkt Festo die Zykluszeiten um mehr als die Hälfte.

Hintergrund: Die Elektroden einer Schweißzange werden beim Setzen eines Schweißpunktes immer stumpfer und müssen nach rund 150 Schweißpunkten gefräst werden, um präzise Schweißpunkte zu setzen. „Das Elektrodenfräsen funktioniert nach demselben Prinzip wie das Anspitzen eines stumpfen Bleistifts“, erläutert Leif Lindahl, ehemaliger Key Account Manager für Scania bei Festo.

Der Schaltschrank von Festo fürs Elektrodenfräsen umfasst die Motorcontroller CMMS sowie die CPX, die via Profinet mit den Motorcontrollern und der übergeordneten Robotersteuerung kommuniziert. „Auch das Thema Sicherheit kommt nicht zu kurz: Die Anlagenbediener müssen die Roboterzellen nach dem Fräsen nicht mehr betreten, um die Elektroden auf die richtige Position des Schweißpunktes einzustellen“, ergänzt Lindahl.

Bis hin zur Losgröße 1

Scania läutet in Oskarshamn ein neues Zeitalter im Fahrzeugbau ein. Mit nahezu vollständiger Automatisierung, aber gleichzeitig enormer Flexibilität bis zur Losgröße 1 auf einer einzigen Montagelinie hat sich das Karosseriewerk schon weit in Richtung Industrie 4.0 entwickelt. Die neue Fabrik macht Schule: Eine ähnliche Fabrik baut Scania im brasilianischen Scania-Werk in São Paulo.

Scania in Oskarshamn

An der Schärenküste Schwedens mit Fährverbindungen zu den Ferieninseln Gotland und Öland rund 300 km südlich von Stockholm liegt das Industriestädtchen Oskarshamn. In 2017 fertigten hier 2700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die unterschiedlichsten Fahrerkabinen für alle Scania-Modelle. Von Oskarshamn bringen Autotransporter die Fahrerkabinen in die Scania-Montagewerke nach Södertälje bei Stockholm, ins niederländische Zwolle und nach Angers in Frankreich. Dort werden sie zu kompletten Lkw-Chassis zusammengefügt.

Scania AB

Ein Unternehmen der Volkswagen-Gruppe

151 87 Södertälje
Schweden

www.scania.com

Tätigkeitsfeld: Schwere Nutzfahrzeuge (Lkw und Busse), Schiffs- und Industriemotoren

  1. Dieser Artikel erschien im Festo Kundenmagazin trends in automation 1.2018
  2. Bilder: Curt-Robert Lindqvist
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