Warum ist das Thema Bin Picking in der Intralogistik so wichtig?

Arquemino Lopes Junior: Die wachsende Produktvielfalt, der anhaltende Boom im E-Commerce und die steigende Komplexität in Logistikprozessen erfordern intelligente Automatisierungsstrategien. Unternehmen müssen effizienter und kostengünstiger arbeiten, um in diesem Umfeld wettbewerbsfähig zu bleiben. Bin Picking ist die automatisierte Hand der Intralogistik. Mit ihr können Unternehmen unterschiedlichste Objekte präzise und zuverlässig aus chaotischen oder geordneten Behältern entnehmen. Diese Technologie ermöglicht es, den Materialfluss zu optimieren und Engpässe in der Logistikkette zu vermeiden.

Welche Herausforderungen, Chancen und Risiken sehen Sie in diesem Zusammenhang?

Arquemino Lopes Junior: Die große Herausforderung ist, Greifsysteme zu entwickeln, die flexibel eine Vielzahl von unterschiedlichen Artikeln zuverlässig greifen können. Ein System, das wirklich jedes Objekt greifen kann, ist wie die Suche nach dem Heiligen Gral. Die Vielfalt an Geometrien und Materialien der Produkte stellt eine enorme Herausforderung für das automatisierte Greifen dar. Wenn der Bin-Picking-Prozess nichtreibungslos verläuft, wird er schnell zum Flaschenhals in der Intralogistik. Das Risiko dabei ist, dass der Materialfluss stockt und das Gesamtsystem an Leistung verliert. Positiv betrachtet, werden Unternehmen, die intelligentes Bin Picking erfolgreich in ihre Prozesse integrieren, einen entscheidenden Schritt nach vorne machen. Sie optimieren nicht nur ihre Effizienz, sondern schaffen auch die Grundlage, um in einem Markt zu bestehen, der immer schnellere und flexiblere Lösungen fordert.

Welche primären Treiber im Markt sind aus Ihrer Sicht für diese Entwicklung verantwortlich?

Arquemino Lopes Junior: Der Online-Handel ist sicherlich einer der größten Treiber für die aktuellen Herausforderungen in der Intralogistik. Die Pandemie hat den E-Commerce massiv vorangetrieben, und obwohl sich das Wachstum danach etwas abgeflacht hat, bleibt der Trend weiterhin positiv und anhaltend. Das bedeutet, dass die wieder kontinuierlich zunehmende Zahl der Bestellungen auch einen deutlich höheren Abwicklungsbedarf in der Logistik erzeugt. Mit dieser Entwicklung geht eine wachsende Produktvielfalt einher, die dazu führt, dass mehr unterschiedliche Produktgeometrien und Materialien im Bin Picking-Prozess verarbeitet werden müssen.

Auch unsere Erwartungen als Konsumenten spielen eine entscheidende Rolle. Wir erwarten, dass bestellte Produkte schnell bei uns ankommen – am besten noch am selben Tag. Diese Erwartung stellt Unternehmen vor die zusätzliche Herausforderung, die ohnehin schon hohen Volumina im E-Commerce noch schneller abzuwickeln. Genau an dieser Stelle wird sehr deutlich, dass ein intelligentes und automatisiertes Bin Picking unverzichtbar ist, um Effizienz, Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit sicherzustellen.

Welche technologischen Entwicklungen hat das Bin Picking in den letzten Jahren besonders beeinflusst?

Arquemino Lopes Junior: Aus unserer Sicht haben sich vor allem drei technologische Entwicklungen als Gamechanger für das Bin Picking erwiesen: der Einfluss von KI und maschinellem Lernen, Fortschritte in der Bildverarbeitung und Objekterkennung sowie die Nutzung von Echtzeit-Daten. Diese haben die Präzision und Flexibilität der Systeme deutlich verbessert.

Das wichtigste Ziel ist es nach wie vor, die perfekten Greifpunkte zu berechnen und das Greifsystem am sogenannten „End of Arm“ so effizient wie möglich zu entwickeln. Um Fehlgriffe auf ein Minimum zu reduzieren, bringen wir bei Festo unsere gesamte Expertise aus der pneumatischen, elektrischen und digitalen Automatisierung in die Lösungsfindung ein.

Mit unserem breiten Portfolio an Greifertechnologien können wir nahezu jede Anwendung abdecken. Besonders hervorheben möchte ich unsere Customized Solutions. Diese entstehen durch eine gezielte Zusammenarbeit mit unseren Kunden, um individuell angepasste Greiferlösungen zu entwickeln. In unserer Entwicklungs-Initiative “Grip it“ arbeitet dazu sogar ein länderübergreifendes Team zusammen, das sich auf die Entwicklung von Sondergreifern spezialisiert hat.

Wie können Daten aus automatisierten Prozessen genutzt werden, um die Effizienz in der Intralogistik zu optimieren?

Arquemino Lopes Junior: Ein gutes Beispiel ist die vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance). Mit unserer innovativen Software Festo AX verarbeiten viele unserer Kunden Echtzeitdaten aus ihren Anlagen und Maschinen und analysieren diese mit Künstlicher Intelligenz. So reduzieren sie Ausfallzeiten um bis zu 25 % und steigern die Effizienz ihrer Produktion nachhaltig. Aber auch in der elektrischen Automation setzen wir auf Festo AX. Durch die Analyse des Stromverbrauchs eines Elektromotors erkennen wir, wie dieser über den Tag verteilt gearbeitet hat. Spitzen im Energieverbrauch deuten oft auf einen erhöhten Drehmomentbedarf und mechanische Probleme hin. Mit Festo AX identifizieren wir Ursachen für Leistungsabfälle frühzeitig und verhindern potenzielle Störungen, bevor sie zu einem Problem werden. Echtzeitdaten geben uns zudem wertvolle Einblicke, ob alle Komponenten optimal ausgewählt und dimensioniert sind. So lassen sich die Effizienz steigern, der Verschleiß minimieren, die Lebensdauer der Anlagen verlängern und die Betriebskosten senken.

Wie unterstützt Festo mit GripperAI die Anforderungen der modernen Intralogistik?

Arquemino Lopes Junior: GripperAI ist eine absolute Innovation für das Bin Picking. Mit dieser revolutionären Softwarelösung ermöglichen wir Robotern und Handlingsystemen, ungeordnete Objekte unterschiedlicher Form und Größe präzise und flexibel zu greifen – selbst wenn diese in chaotischer Lage vorliegen. Unsere Lösung nutzt künstliche Intelligenz, hier insbesondere Machine Learning, um sich autonom an wechselnde Greifaufgaben anzupassen und die Effizienz im Picking-Prozess kontinuierlich zu optimieren. CAD-Vorlagen für die Kamerakonfiguration oder zeitaufwändiges Teachen des Roboters sind nicht mehr erforderlich. GripperAI erkennt Objekte eigenständig und berechnet situativ die besten Greifpunkte. Das macht die Lösung besonders flexibel und reduziert den manuellen Aufwand erheblich.

In Tests erreichte GripperAI bei einfachen Aufgaben nahezu 100 % Erfolgsquote. Selbst in komplexen Szenarien mit ungeordneten Objekten und chaotischen Umgebungen lagen die Erfolgsquoten ähnlich hoch. Das zeigt, wie dynamisch sich die Software an unterschiedliche Anforderungen anpassen kann.

Der KI-gestützte Griff in die Kiste für flexible Prozesse

Setzen Sie mit innovativer Künstlicher Intelligenz einen neuen Maßstab in der Effizienz Ihrer Intralogistik. Lösungen von Festo ermöglichen es Ihnen, ungeordnete Objekte unterschiedlichster Form und Größe vollautomatisiert zu greifen. GripperAI ist eine innovative Softwarelösung von Festo, die speziell für das Bin Picking in der Intralogistik entwickelt wurde.

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Wo wird GripperAI bereits eingesetzt und welche Weiterentwicklungen sind geplant?

Arquemino Lopes Junior: Aktuell setzen wir GripperAI in verschiedenen Pilot- und Forschungsprojekten ein, um neue Funktionen und Anwendungen zu testen. In Zusammenarbeit mit Logistikunternehmen erproben wir die Technologie für das Greifen unterschiedlicher Teile – von kleinen Objekten wie USB-Sticks oder Dosen bis hin zu schweren Kartons.

Geplante Erweiterungen zielen darauf ab, die Lernfähigkeit und Anpassungsfähigkeit der Software weiter zu steigern. Dazu gehört auch die Integration zusätzlicher Sensorik- und Bildverarbeitungstechnologien, um die Präzision und Effizienz in den Greifprozessen weiter zu optimieren. Ein besonderes Highlight ist unser Forschungsprojekt FLAIROP. Hier untersuchen wir, wie Greifer durch den Einsatz von integrierten Kameras und verteilter KI noch flexibler und intelligenter werden können. Unser Ziel ist es, Trainingsdaten standortübergreifend zu nutzen, ohne dabei sensible Unternehmensdaten preiszugeben.

Was würden Sie Unternehmen empfehlen, die Bin Picking in ihre Prozesse integrieren möchten?

Arquemino Lopes Junior: Wählen Sie unbedingt einen Partner, der über eine breite Automatisierungs-Expertise und ein umfangreiches Portfolio in der Greifertechnologie verfügt. Nur so lassen sich Lösungen entwickeln, die den spezifischen Anforderungen der Anwendung gerecht werden. Standardlösungen stoßen gerade im Bereich des Bin Pickings oft an ihre Grenzen. Die individuaellen Anforderungen und Gegebenheiten sind in vielen Anwendungsbereichen so vielfältig, dass maßgeschneiderte Ansätze unerlässlich werden. Ihr Partner sollte daher auch bereit sein, gemeinsam mit Ihnen individuelle Lösungen zu entwickeln.

Da viele Maschinen häufig in verschiedenen Ländern eingesetzt werden, ist es essenziell, dass der Automatisierungspartner auch weltweit vertreten ist. Das garantiert nicht nur die Verfügbarkeit von Ersatzteilen, sondern auch einen reibungslosen Betrieb der Systeme.

Und vermutlich einer der wichtigsten Empfehlungen ist es, einen Partner zu wählen, der technologieübergreifend entwickelt und alles aus einer Hand anbietet – sei es pneumatische, elektrische oder digitale Lösungen. Welche Technologie zum Einsatz kommt, hängt nämlich immer von den Anforderungen der jeweiligen Anwendung ab. Ein Partner, der in allen Bereichen Kompetenz besitzt, kann Ihnen am besten dabei helfen, die richtige Automatisierungsstrategie für Ihre Prozesse zu entwickeln.

Wir bedanken uns bei Arquemino Lopes Juniorfür das inspirierende Gespräch und die umfangreichen Informationen über die Bedeutung des Bin Pickings in der Intralogistik. Seine Expertise und langjährige Erfahrung haben uns wichtige Einblicke gegeben, wie Unternehmen durch den automatisierten „Griff in die Kiste“ signifikante Effizienzsteigerungen erreichen können.

Arquemino Lopes Junior,  Industry Segment Manager Intralogistics, Festo SE & Co. KG

Über den Autor

Arquemino Lopes Junior
Industry Segment Manager Intralogistics
Festo SE & Co. KG