Jamaika: Technische Bildung schafft Perspektiven

Weltweit größtes FACT Trainingszentrum in Kingston eingeweiht

Die Initiatoren in Jamaika und Deutschland haben einen langen Atem gebraucht. Aber es hat sich gelohnt. Seit September 2018 werden im Schatten des ehemaligen Piratenhafens von Kingston, Jamaika junge Ingenieure und Mechatroniker ausgebildet. Hoffnungsträger für die wirtschaftliche Entwicklung des aufstrebenden Karibikstaats.

Goran Miladinov hat sich einiges anhören müssen. Die Frotzeleien auf den Festo Fluren, die Anspielungen auf Reggae, Rastalocken und karibische Temperaturen parierte er selbstbewusst, aber insgeheim war er sich seiner Sache oft nicht sicher. „Fritz“, textete er dann, „ich war so oft bei dir! Wie lange wollen wir noch machen?“ Die Antwort aus Jamaika: „Ihr müsst an uns glauben! Schick mir noch mal das Exposé!“ Also schrieb der Festo Didactic Vertriebsmann noch einmal ein Angebot und mailte es seinem Geschäftspartner Fritz Pinnock in Jamaika – zum 90. Mal. Von den anderen 89. Malen handelt diese Geschichte.

Sie beginnt auf einer sandigen Landzunge gegenüber dem Jamaica Port of Kingston. Wer den Küsten-Freeway entlangfährt, sieht dort hinter den Frachtern die Flugzeuge aufsteigen. Seit 1984 befindet sich auf dem einstigen Piratenversteck eine Trainingsstätte für Marineoffiziere: Das sogenannte Jamaica Maritime Training Institute (JMTI) wurde 1980 mit norwegischer Unterstützung aus der Taufe gehoben. Noch in neun anderen Häfen der Welt bauten die Norweger solche Schulen auf. Überlebt hat nur die jamaikanische.

St. Gallen: Es hat geblitzt

2001 nennt sich die Schule schon Caribbean Maritime Institute (CMI), hat Außenstellen in anderen Karibikstaaten und bildet neben Matrosen auch Feuerwehrleute und Flugpersonal aus. Doch die Technik hat sich international noch schneller entwickelt. Längst fahren die Jamaikaner Autos, die in Kingston kein Mechaniker mehr reparieren kann. 7 Up und Pepsi bringen lieber eigene Fachkräfte mit, um ihre Brausen vor Ort in Flaschen abzufüllen. Mit der Folge, dass Anfang der 2000er-Jahre die Zahl der Arbeitslosen in Jamaika stark steigt. Von den 15- bis 24-Jährigen ist ein Drittel ohne Job. Immer mehr junge Männer sehen nur noch eine einzige Karrierechance: als Gangster. Die Lebenserwartung sinkt.

In dieser Zeit ist Fritz Pinnock – der Name täuscht, dahinter steckt ein waschechter Jamaikaner – Direktor des CMI geworden. Der damals 39-Jährige hat in England studiert und promoviert, ist als Gesandter der Hafenbehörde schon um die halbe Welt gereist und wünscht seinen zwei Töchtern mehr als die Möglichkeit, Jura zu studieren. So machen sich im Sommer 2003 drei seiner Mitarbeiter nach St. Gallen auf. Bei den 37. WorldSkills wollen sie sehen, was Jugendliche in Europa technisch so lernen. Ein Wettkampfareal sticht ihnen auf der Berufsolympiade sofort ins Auge – dort bewegen sich Werkstücke wie von Geisterhand und die Teams programmieren unter Hochdruck. Es sind die hochmodernen Mechatronik Stationen von Festo.

Schwärmend kehrt das Trio nach Jamaika zurück. Fritz Pinnock ist das nicht genug. Er nimmt selbst Kontakt auf und will mehr zu den Labor- und Werkstattausstattungen wissen, die Festo Didactic anbietet. Und er will vor allem die Laborcontainer für Elektrotechnik und Pneumatik modernisieren lassen. Kostenpunkt: 300.000 US-Dollar. Es ist die Zeit, in der Pinnock beim Entwicklungsfonds PetroCaribe seine Antragserie startet.

San Salvador: Aufbruch in die Logistik

Der Kontakt von Fritz Pinnock bei Festo heißt Goran Miladinov. Als die ungewisse Finanzierung deutlich wird, schlägt Goran vor, die nächste Maschine nach Panama zu nehmen und dort nach El Salvador umzusteigen: „Wenn du sehen willst, was wir noch so können – außer dir ein schönes Labor hinstellen!“ Denn im zentralamerikanischen El Salvador ist man schon einen großen Schritt weiter: Aus einem PPP-Projekt mit Regierung, GTZ (heute GIZ), Siemens und Festo sind drei Labore für Mechatronik, Prozess- und Fabrikautomatisierung hervorgegangen. Festo Didactic hat ein Hands-on-Training konzipiert und die Trainer geschult.

Und dabei bleibt es nicht: In den Folgejahren bekommt das Instituto Tecnológico Centroamericano (ITCA) als erstes FACT Centre (Festo Authorized Certified Training Centre) die offizielle Akkreditierung zur dualen Hochschule. Auf Empfehlung von Festo bietet das ITCA auch Kursmodule für die Industrie an. Siemens ist der erste Kunde, der hier für seine Mitarbeiter Trainings bucht. Fritz fliegt nach El Salvador, und er fliegt auf die Idee. Denn das ITCA läuft prächtig: Nicht nur, dass die industriellen Trainings regelmäßig Erlöse bringen. Sie bringen auch Kontakte zur Industrie, das Institut erfährt, mit welchen Technologien Unternehmen arbeiten und übernimmt diese Themen in seinen Lehrplan.

Zurück in Jamaika holt Fritz bei Goran ein neues Angebot ein. Zu den drei neuen Laboren soll Festo Didactic noch ein Qualifizierungsprogramm entwickeln. Das Auftragsvolumen steigt damit auf 1 Million US-Dollar. Pinnock spricht damit beim Verkehrsministerium vor. Er sieht gerade in der Logistikbranche große Chancen für Mechatroniker. Denn er ist davon überzeugt, dass Kingston Port zur Drehscheibe im internationalen Güterverkehr wird. „Traditionelle Ingenieure sind nicht mehr relevant“, argumentiert er. „Mechatroniker dagegen sind multidisziplinär aufgestellt. Sie beherrschen Steuerungstechnik genauso wie Maschinenbau, Elektrotechnik und Programmierung.“

Uruguay und Mexiko: Jetzt erst recht

Fritz Pinnock hofft, dass sich das Ministerium beim PetroCaribe Development Fund für den neuen Plan stark macht. Bei jeder Gelegenheit wirbt er für seine Idee. Er schreibt Artikel, gibt Interviews und hält Vorträge, alles um klarzumachen, wie wichtig es ist, die lokale Ausbildung an internationale Standards anzupassen: „Unsere Jugend muss dann nicht mehr auf ein Stipendium hoffen und ins Ausland gehen, um einen anerkannten Abschluss zu haben! Und wenn wir qualifizierte Arbeitskräfte bieten können, locken wir auch Investoren ins Land. Nicht zuletzt sparen wir uns das Einfliegen teurer Experten.“

Aber nichts geschieht. Pinnock wird empfangen und gehört, doch sein Finanzierungsantrag kommt nicht durch. In Uruguay eröffnet unterdessen 2012 das zweite FACT Centre. Aber in Jamaika am CMI hantieren die Auszubildenden noch immer mit Apparaturen aus den 80er Jahren, in jedem Jahrgang wieder. Viele machen ihren Abschluss, aber nicht alle.

Tragische Einzelschicksale seiner Auszubildenden treiben Pinnock noch mehr dazu an, den PetroCaribe Fund erst recht mit Anträgen zu bombardieren. Inzwischen geht es um 2 Millionen Dollar. Fritz hat nämlich Wind davon bekommen, dass Festo in Mexiko für eine renommierte Universität eine Smart Training Factory baut. Dem verblüfften Goran in Esslingen sagt er: „Nimm so ein Labor mit auf in unser Angebot. Mit 2 Millionen werden sie uns ernst nehmen!“

Jamaika: Zusage auf Antrag 91

Es ist schließlich der Regierungswechsel 2016, der neue Hoffnung gibt: Premierminister Andrew Holness, für den SPS und Industrie 4.0 keine Fremdworte sind, unterstützt Fritz’ Vision. Sogar die Oppositionspartei steht auf einmal hinter dem Vorhaben. Und dann kommt tatsächlich die Zusage der Entwicklungsgesellschaft. Sie will die Hälfte der Kosten übernehmen. Es ist der 91. Antrag.

Für Fritz ist das aber nur ein Etappensieg. Er hat in der Zwischenzeit mehr getan als Anträge zu schreiben: Mit inzwischen fünf Fakultäten und einem akademisch zertifizierten Lehrkörper erreicht er eine Hochschulakkreditierung. Und jetzt, als Caribbean Maritime University (CMU), erschließen sich noch ganz andere Finanzierungsquellen. Als Goran das endlich bewilligte Equipment schon losschicken will, um die drei Laborcontainer neu einzurichten, stoppt Fritz die ganze Lieferung. „Sie haben uns ein neues Gebäude bewilligt!“, jauchzt er über den Atlantik.

Ein Jahr lang steht die komplette Didactic Ausrüstung für Jamaika in Esslingen in einer Halle. Bei Festo macht man sich bereits Sorgen, was der Wirtschaftsprüfer sagen werde, wenn er Zahlungseingänge für Waren sieht, die nicht ausgebucht sind. Doch am Ende wird alles gut: Als das weltgrößte FACT Centre am 19. September 2018 feierlich eröffnet wird, sind alle da, sogar die kleine Delegation, die 2003 nach St. Gallen gereist war. Und ein Trainer vom FACT Centre El Salvador. René Flores ist nach Jamaika gezogen und als Direktor des hiesigen FACT Centre bei CMU heute verantwortlich für die dortigen Dozenten. Schon vor der Eröffnung hat Pepsi ein erstes Training gebucht – und einen Trainer in spe gleich abgeworben. Fritz und Goran stört das wenig. „Das zeigt doch, dass wir auf dem richtigen Weg sind!“ Die beiden haben offenbar noch einiges vor.

Das FACT Centre in Jamaika

FACT - Festo Authorized and Certified Training Centre
at the Caribbean Maritime University in Kingston, Jamaica

https://cmu.edu.jm/fact-centre/

Palisadoes Park
Norman Manley Highway
P.O. Box 8081 CSO Kingston

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