Modernes Lernen – Kreativ, unabhängig, digital

Als der bekannte Schweizer Pädagoge und Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi Anfang des 19. Jahrhunderts das Lernen mit Kopf, Herz und Hand propagierte, wusste die Welt noch nichts vom mehrdimensionalen Lernen. Aber die Vision eines ganzheitlichen Ansatzes war damit bereits geboren. Seither ist das Leben ungleich komplexer geworden, und komplexe Aufgaben erfordern zu ihrer Erschließung komplexe Methoden – oder?

Lernen ist ein Prozess für das ganze Leben. Das stellte die EU-Kommission im Rahmen ihrer bildungspolitischen Aktivitäten für den europäischen Raum des lebenslangen Lernens fest. Lebenslanges Lernen wird hier als jede zielgerichtete Tätigkeit definiert, die einer kontinuierlichen Verbesserung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen dient. Dabei geht es um das gesamte Spektrum von formalem, nicht-formalem bis hin zum informellen Lernen. Das Ziel ist dabei hoch gesteckt: die wettbewerbsfähigste und dynamischste Wissensgesellschaft der Welt zu werden.

Weit gefasst und komplex

Bildung wirkt sich in allen Lebensphasen positiv auf die persönliche Identität, das gesellschaftliche Miteinander und die berufliche Leistungsfähigkeit aus. Aber die Rahmenbedingungen des Lernens ändern sich. Die Lernenden haben veränderte Ansprüche, und es gibt Erkenntnisse in der Lernforschung, die eine neue methodisch-didaktische Konzeption im gesamten Lernkontext bedingen. „Das traditionelle System ist aufzulockern“, verlangt der deutsche Philosoph und Publizist Richard David Precht in Bezug auf Schulen und Universitäten. Er möchte kompetente Personen intensiver in den Unterricht einbeziehen und auch mittels elektronischer Hilfen besser auf den Wissensstand von Schülern und Studenten eingehen. Als Beispiel nennt Precht, dass in Schulen zusätzlich renommierte Praktiker unterrichten sollen, auch solche im Ruhestand. Wissen und Erfahrung würden damit auf direktem Wege von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden.

Neue Lernkonzepte

Stillsitzen, Pauken und Frontbeladung: das klassische Programm gehört mehr und mehr der Vergangenheit an. Modernes Lernen heißt deutlich individueller vorzugehen und neue Projekte zu erproben. Das Vortragen per Frontalunterricht ist nicht mehr die einzige Lehrmethode und es gerät zusehends in die Kritik, denn das neue Lernen löst sich von Ort, Raum und Zeit. Alternative Mischkonzepte wie das Arbeiten in der Gruppe, mit einem Partner oder auch alleine unter Verwendung von neuen Technologien werden favorisiert. Zum Beispiel mit E-Learning, das nicht nur die unabhängige Nutzung, sondern auch die individuelle und flexible Gestaltung von Lernprozessen ermöglicht, um sich den Stoff und das problemlösende Denken besser einprägen zu können. Die Verschmelzung der digitalen Welt mit der Ausbildung ist logisch und darüber hinaus ein kosten- und zeitsparendes Verfahren.

Lernen prägt unser Denken

„Es liegt daran, wie wir auf dieses Leben vorbereitet werden, wie wir erzogen, sozialisiert und letztlich gebildet werden, mit anderen Worten, welches ‚Alphabet‘ wir übergestülpt bekommen, mit dem wir dann ausgerüstet auf und in die Welt losgehen“, sagt Erwin Wagenhofer, der in seinem für das Kino gedrehten Dokumentarfilm „Alphabet“ – mit dem er international Aufsehen erregte – Fehlentwicklungen im Bereich Bildung aufzeigt. Er betont auch: „Was wir lernen prägt unseren Wissensvorrat, aber wie wir lernen, prägt unser Denken.“ Und das ist evident: Der Mensch merkt sich leichter, was ihn ergreift.

Virtuell und spielend lernen

Im wissenschaftlichen Bereich werden neue Ansätze des virtuellen Lernens wie Digital Game Based Learning, Digital Storytelling und Interaktive Dramaturgie intensiv diskutiert. Diese Methoden gehen davon aus, dass das Lernen über Geschichten und Spiele wirkungsvoller gestaltet werden kann und das Internet ein ideales Medium dafür ist. Die „Virtual Reality“ bietet die technischen Voraussetzungen, um die gewünschten Inhalte durch die Integration aller Sinne in einer neuen Art und Weise erlebbar zu machen Das Eintauchen in die virtuelle Welt spricht emotional stark an und erhöht die Bindung an den vermittelten Inhalt.

Strukturell vorgehen

Nicht die Vermittlung von fertigem Wissen ist sinnvoll, sondern die Gestaltung von Handlungs- und Denkstrukturen. Das Wissen baut sich dabei hierarchisch auf: Die wichtigsten Inhalte werden verbunden, die entsprechenden Fragen geordnet und Ideen gebündelt. All das soll beim besseren Lernen und Denken helfen. Zahlreiche Lehr- und Lernmethoden dazu haben sich etabliert – von Mindmapping und Brainstorming bis zu Clustering. Ihr Ziel ist es, eine sinnvolle Reihenfolge der einzelnen Lernbausteine zu schaffen, die sich in einen Arbeitsplan übertragen lässt. Allen liegt aber zugrunde, themenorientiert Informationen zu sammeln, nach Wissenseinheiten zu gruppieren und Lerninhalte zu systematisieren. Selbst für die individuelle Arbeit und bei Schreibprozessen ist Clustering oft hilfreich – um die eigenen Gedanken und Ideen zu strukturieren oder Schreib- und Denkblockaden zu überwinden.

Hyper, hyper

Wichtiges miteinander verknüpfen sowie nach und nach ein Netz aufbauen – das ist Hyperlernen, eine Methode, um die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und sich effektiver neues Wissen anzueignen. Das kommt dem menschlichen Gehirn entgegen, das Informationen nicht einfach in Schubladen speichert, sondern zu komplexen Netzen ordnet. Das Ziel des Hyperlernens ist, so viel Wissen wie nur möglich mit unterschiedlichen Themen zu vernetzen, um leichter Problemlösungen zu finden. Man baut sich sein „persönliches Internet im Kopf“ und ruft mithilfe seiner eigenen Suchmaschine das angelernte Wissen ab. Die wesentliche Voraussetzung dabei ist allerdings, dass der Lernstoff nicht nur auswendig gelernt, sondern auch verstanden wurde. Ansonsten käme es zu einer Art „Super-Gau“ im Gehirn, wenn nicht die richtigen Informationen miteinander verknüpft würden.

Ermutigen und inspirieren

Es geht in erster Linie um die Schaffung von Bedingungen, die Menschen in die Lage versetzen, die in ihnen angelegten Potenziale zu entfalten“, sagt der bekannte deutsche Neurobiologe Professor Dr. Gerald Hüther. Um es Menschen in Zukunft zu ermöglichen, ihre Potenziale optimaler zu entfalten, müssten laut Professor Hüther dafür günstigere Rahmenbedingungen geschaffen werden und eine auf Potenzialentfaltung ausgerichtete Beziehungskultur in Familien, Kindergärten, Schulen, Universitäten, im Berufsleben und nicht zuletzt in den Kommunen entwickelt werden. Auch sei die Bedeutung emotionaler Reaktionen bei Lernprozessen sehr groß und durch neurowissenschaftliche Forschungen inzwischen gut dokumentiert, sodass sich komplexe Zusammenhänge in Form von Bildern und Metaphern besser beschreiben und im Gehirn verankern lassen als durch sachliche Erklärungen. Dabei geht es Professor Hüther vor allem neben der Vermittlung von Sachwissen immer um das Anregen der eigenen Vorstellungskraft, um das Wecken der Freude am eigenen Entdecken und an der Transformation von abstraktem Wissen in eigene Erkenntnis.

Vom Wissen zur Kompetenz

Lernen soll nicht nur Sach- und Fachwissen vermitteln, Fertigkeiten schulen und die Qualifikation erhöhen. Lernen soll dazu führen, selbstorganisiert Lösungen für konkrete und relevante Problemstellungen zu finden. Es geht um die Kompetenz, die nicht alleine durch schulisches Pauken, sondern auch im Rahmen von Projekten und realen Arbeitssituationen erworben wird. Das informelle Lernen steht dabei im Mittelpunkt und wird mit klassischen Qualifizierungen verknüpft.

Das Lernen selbst lenken

Besonders wichtig ist die Selbstorganisation, weil sie die Lernenden anregt, eigene Beiträge zu leisten und ihr Lernen selbst zu lenken. Wenn dann auch noch die Kooperation mit Anderen für gemeinsames Lernen und Arbeiten funktioniert, ist der richtige Mix gefunden und die Basis für echtes Lernengagement gelegt. Wie schrieb schon der Schweizer Reformpädagoge Peter Fratton in seinen „Pädagogischen Urbitten“ über das autonome Lernen in der gestalteten Umgebung: „Erziehe mich nicht – sondern mach’ mich vertraut und begleite mich, bring’ mir nichts bei – aber lass’ mich teilhaben, erkläre mir nichts – doch gib mir Zeit zu erfahren, motiviere mich nicht – aber dich!“

Gestern, heute und morgen

Die neuen Technologien eröffnen den Menschen eine ganz neue, beinahe unendliche Welt – das hat deutlichen Einfluss auf unsere Lerninhalte, die Lehrmethoden und die Kanäle über die wir uns bilden. Man kann heute über das Internet sehr einfach in riesige Bibliotheken hineinschnuppern oder über Foren und soziale Netzwerke Experten um ihren Rat und um Informationen zu einem bestimmten Thema bitten. Und es geht immer weiter, denn ein neuer, aus den USA kommender Trend erobert das Lernen: offene online-Vorlesungen, sogenannte MOOCs – Massive Open Online Courses, die es Millionen Menschen ermöglichen, Wissen gratis oder sehr günstig zu erwerben. Einen demokratischeren Zugang zur Bildung gab es seit der Erfindung des modernen Buchdrucks nicht mehr – und das ist immerhin 566 Jahre her. Wie gelernt wird, was gelernt wird, wo gelernt wird und mit wem gelernt wird – der Fantasie sind in Zukunft immer weniger Grenzen gesetzt.

  1. Dieser Artikel erschien im trends in qualification Kundenmagazin von Festo Didactic 2.2016
  2. Bilder: Festo, Draper, Precht, Wagenhofer, Hüther, Fratton, Fotolia
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