realisiert. Dies ermöglicht eine umweltschonende und in
Zukunft sogar wieder eine urbane Produktion zu akzeptablen
Kosten in Deutschland.
Ergeben sich daraus nicht völlig neue Möglichkeiten der
Produktion?
Wahlster:
Ja, das Verstehen einer Situation durch Maschinen
sorgt für eine völlig neue Qualität der industriellen Produktion.
Aus dem Zusammenwirken vieler einzelner Teile entstehen
Lösungen, die man so zuvor nicht in die Produktionsanlage
einprogrammiert hat. In der Physik und Biologie nennt man
dieses Phänomen Emergenz. Als Beispiel gilt der Ameisenstaat,
in dem das einzelne Insekt nicht sonderlich intelligent ist, aus
dem Zusammenspiel vieler Tiere jedoch erstaunliche Lösungen
beispielsweise zur Futtersuche oder Feindabwehr hervor
gehen. Das Gesamte ist mehr als die Summe seiner Teile.
Dieses Phänomen entsteht auch in der Fabrik 4.0.
Ist eine Komponente beschädigt oder fällt ein Teil ganz aus,
entwickeln die restlichen funktionsfähigen Komponenten
gemeinsam eine Art Selbstheilung, die den Schaden erkennt,
sein Ausmass einschätzt, alternative Lösungen für die
anstehende Fertigungsaufgabe findet und entsprechende
Wartungs- oder Reparaturarbeiten beauftragt, die dann
natürlich wie bisher von Fachkräften ausgeführt werden
müssen.
Wie im Ameisenstaat erfordert dies aber auch eine hoch-
effiziente Art der Kommunikation. Wie löst dies Industrie 4.0?
Wahlster:
Ein entscheidender Erfolgsfaktor für Industrie 4.0
ist die intelligente Interpretation der Umgebungsinformation.
Die Software spielt also eine zentrale Rolle. Sie soll die Sensor-
informationen nicht nur aufnehmen und als Bitsequenz weiter-
geben, sie muss sie auch im Kontext inhaltlich verstehen.
Dazu hat die Fabriksoftware der Zukunft auch ein Begriffs-
system, mit dem die Funktion von Anlagekomponenten,
Produktionsaufgaben, Zustände und Ereignisse eindeutig
beschrieben werden können. Bei Industrie 4.0 findet so-
mit eine hochwertige semantische Kommunikation statt,
die nicht nur die Menschen in der Fabrik, sondern auch die
Fabrikmaschinen verstehen. Damit dies funktionieren kann,
braucht man standardisierte Beschreibungssprachen und
das Internet als Kommunikationsplattform in der Fabrik. Das
heutige Chaos der unzähligen Bussysteme wird durch ein
einziges weltweit standardisiertes Protokoll abgelöst: das
Internetprotokoll auf echtzeitfähigem WLAN oder Ethernet.
Industrie 4.0 bedient sich also des Internet zur Kommuni-
kation zwischen Anlagenkomponenten?
Wahlster:
Richtig, deshalb spricht man in diesem Zusammen­
hang auch vom „Internet der Dinge“. Die einzelnen Maschinen
verfügen über miniaturisierte Webserver in der Grösse eines
Zuckerwürfels, die ihre Dienste anbieten und mit den im
Fertigungsprozess befindlichen Werkstücken kommunizieren
können. Ein Werkstück kann sich in Industrie 4.0 von einem
mobilen Werkstückträger wie auf einem Marktplatz zu
derjenigen Produktionskomponente als Diensteanbieter
bringen lassen, die den nächsten benötigten Verarbeitungs-
schritt im Moment am schnellsten und kosten­günstigsten
realisieren kann. Die Verarbeitungskette kann so für jedes
Werkstück als eine Art Navigation durch die Fabrik entstehen:
Das ermöglicht ein Höchstmass an Flexibilität, Ausfall-
und Wandlungssicherheit für Industrie 4.0. In der so genann-
ten wandelbaren Produktion von Industrie 4.0 teilt also der
Rohling der Anlage mit, was diese aus und mit ihm machen
soll. Die Anlagenkomponente muss dem Produkt wiederum
in einer verständlichen Sprache übermitteln, welche Dienste
sie ihm anbietet. Das Produkt entscheidet dann, ob und in
welcher Form es die Leistung in Anspruch nimmt, und
speichert das in seinem semantischen Produktgedächtnis.
Gibt es dies heute schon in der industriellen Praxis?
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